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Mütze, die als Knäuel unter dem Fenster lag. »Immer
wenn du dich bewegt hast, hab ich meine Hand auf deine
Augen gelegt, damit sie nicht aufgehen. Siehst du? Und du
hast dich ganz oft bewegt. Aber ich hab aufgepasst, heut
Nacht und gestern Nacht auch schon und vorgestern Nacht
und vorvorgestern Nacht auch schon. Deswegen bist du
jetzt nämlich so ausgeschlafen, das ist doch gut oder
nicht?«
Dann ging er zum Fenster, bückte sich und setzte sich
die Mütze auf. Achtlos ließ er seine Spielzeugpistole
fallen, nahm die Ohrschützer vom Boden, strich sie glatt,
klopfte sie im Gehen ab, stülpte sie behutsam über Saras
Kopf und achtete darauf, dass sie genau auf ihren Ohren
saßen. Mit zusammengepressten Lippen gab er Sara einen
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schnellen Kuss und schlurfte zur Wohnungstür, ohne seine
Pistole aufzuheben.
»Der ist doch blöd«, sagte Sara mürrisch. »Ich hab sogar
die Botschaft für seine Mama schreiben müssen, weil er
das nicht hingekriegt hat, der Blödian.«
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on einem Fall wie diesem blieb nicht einmal eine
V
Akte. Die Mitglieder der Soko beteuerten, wie
erleichtert sie seien, und übten harte Kritik am Verhalten
der Eltern, ehe sie in ihre Kommissariate zurückkehrten,
wo ihre Alltagsarbeit liegen geblieben war. Nachdem ich
meinem Vorgesetzten und meinen Kollegen einen
mündlichen Abschlussbericht gegeben hatte, schickte ich
einen Vermisstenwiderruf an Wieland Korn vom LKA,
der die Daten in seinem Computer korrigieren und
schließlich löschen würde.
Es war nichts passiert. Niemand war verletzt oder getötet
worden, zwei Kinder waren ausgerissen, und wir hatten sie
in ihre ruinierten Elternhäuser zurückgebracht. Letzte
Gespräche an der Haustür. Dann fiel die Tür zu, und in
den Zimmern dahinter stieg das Schweigen wie eine Flut.
Dafür waren wir nicht zuständig.
Die Luft roch nach Schnee von den Bergen, und ein
kalter Wind wehte.
Der Junge saß in seinem Zimmer und durfte nicht
hinaus. Vielleicht war es Timo, vielleicht war ich es,
damals, als ich dachte, meine Mutter würde mich
verstoßen, ihr Schmerz wäre ihr wichtiger als ich, und sie
würde sterben, ohne mich mitzunehmen. Deshalb musste
ich weglaufen, weit in den Wald hinein und wieder hinaus
und weiter durch die Nacht und durch den Tag. Ich wollte
nicht verstoßen werden, ich wollte nicht einsam gemacht
werden, ich wollte mich, wenn es schon unbedingt sein
musste, selber einsam machen, für alle Zeit.
Der Junge, der Timo war oder ich, lebte in einer
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Vorstellungswelt, und als diese zerbrach, fiel es ihm
unsagbar schwer, das wahre Leben zu begreifen, zu dem
der Tod gehört wie jeder andere Abschied, wie die Lüge
und das Scheitern.
Und der Junge, der ich war oder Timo gewesen sein
wird, fürchtete im Stillen nichts mehr, als dass es von nun
an kein Liebesein mehr für ihn geben könnte und dass er
daran schuld war, er selbst, dass er es zerstört hatte, für
alle Zeit.
Als ich am Tag der Beerdigung meiner Mutter nach der
Hand meines Vaters greifen wollte, verfehlte ich sie beim
ersten Versuch. Aber als ich jetzt auf der Reichenbach-
brücke nach Sonjas Hand griff, erwischte ich sie sofort.
Wir schwiegen weiter.
Was aus Josef Singer und seiner schönen Annabelle
geworden war, die im Hotel »Aurora« ihr nebelloses
Glück zelebrierten, erfuhren wir nicht, obwohl Martin
einige Nachforschungen betrieb, angestachelt von einer
seltsamen Neugier.
Meine Versuche, den Sandler Bogdan noch einmal zu
treffen, waren alle gescheitert, ich ging in die Kneipe im
Tiefgeschoss des Ostbahnhofs, ich befragte die Frau mit
den Plastiktüten, die wieder an der Bushaltestelle saß, ich
sprach mit den Männern vom Wachdienst, niemand hatte
den Mann mit dem zerstörten Gesicht und dem Lederhut
in letzter Zeit gesehen. Anscheinend hatte er seinen
Aufenthaltsort gewechselt, und ich verstand nicht, wieso.
Und ich verstand nicht, wieso ich ihn unbedingt
wiedersehen wollte.
»Wir müssen weiter«, sagte Sonja.
Es war der dreiundzwanzigste Dezember, kurz nach
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neunzehn Uhr, wir waren mit Martin in dessen Wohnung
verabredet.
Ich sagte: »Warum lächelst du die ganze Zeit?«
»Der Wind schneidet mir ins Gesicht.«
Ich war dem unsichtbaren Schneider dankbar, denn mir
gefiel Sonjas Faltenwurf um die Augen und den Mund.
Dann stiegen wir in ihren blauen Lancia und ich setzte
mich auf die Rückbank.
Wir tranken Bier aus der Flasche und scherten uns nicht
das Geringste um das Acrylamid in den Chips, die Martin
in kolossalen Mengen besorgt hatte.
»Unser Knastkassierer hat Glück«, sagte er.
»Der Haftrichter lässt ihn über die Feiertage nach
Hause.«
Ich sagte: »Bist du sicher, dass sich darüber jeder in
dieser Familie freut?«
Martin legte die Videokassette ein, und wir stießen mit
den Flaschen an.
»Möge es nützen!«, sagte er.
»Möge es nützen!«
»Möge es nützen!«
Irgendwo hatte Martin gelesen, dass dies die wörtliche
Übersetzung von »Prosit« sei.
»Chips und Bier«, sagte Sonja. »Wie alt seid ihr
eigentlich?«
»Und du?«, sagte Martin.
Als Jackie Brown über das Laufband am Flughafen ging,
musste ich an Gilda Redlich denken, die beiden Frauen
hatten eine ähnliche Figur, eine, die mich keinesfalls
unbewegt ließ.
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»Die Pam Grier ist ganz schön dick«, sagte Sonja.
»Find ich nicht«, sagte Martin. »Ich find, sie hat einen
Wünsch-dir-was-Körper. Was meinst du, Tabor?«
Ich kaute Acrylamid.
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